Welten der Muslime

Autor/en: Ingrid Pfluger-Schindlbeck
Verlag: Reimer Verlag und Ethnologisches Museum in Berlin
Erschienen: Berlin 2012
Seiten: 240
Ausgabe: Hardcover
Preis: € 39,95
ISBN: 978-3-496-01445-4
Kommentar: Michael Buddeberg, Mai 2012

Besprechung:
Von den 732.000 Besuchern, die 2011 ihren Weg in das Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum auf der Berliner Museumsinsel gefunden haben kann die Sammlung Islamischer Orient im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem nur träumen. Es ist das Los, das sich das Museum in Dahlem mit vielen anderen Museen teilt, die abseits der Zentren des Kunst- und Kulturbetriebes gelegen sind, etwa mit dem Museum des Insitute du Monde Arabe in Paris oder mit dem Museum für Völkerkunde in München. Der Louvre, die Münchner Pinakothen und die Berliner Museumsinsel sind Publikumsmagneten, an denen vorbei nur Kenner, Suchende und Spezialisten diese anderen Museen und Sammlungen finden und besuchen. Dabei gehören die im Jahre 1873 aus der königlichen Kunstkammer hervorgegangenen Sammlungen des Ethnologischen Museums in Berlin zu den größten und bedeutendsten ihrer Art. Das gilt auch für die Sammlung Islamischer Orient, die sich seit kurzer Zeit mit der neuen Dauerausstellung „Welten der Muslime“ präsentiert. Die Lektüre des aus diesem Anlass von Ingrid Pfluger-Schindlbeck, der Kuratorin für die Sammlungen Nordafrika, West- und Zentralasien am Ethnologischen Museum Berlin herausgegebenen Essaybandes ist jedem an dieser Welt Interessierten wärmstens zu empfehlen. Ausstellung und Begleitbuch haben es sich zur Aufgabe gemacht, mit der Behandlung ausgewählter Themen ein besseres als das übliche pauschalierte Verständnis für die islamische Welt zu wecken. Den Reigen der Essays eröffnet die Herausgeberin mit einer historisch kritischen Betrachtung des Koran, aus der man erfährt, dass der Islam zum Zeitpunkt seiner Entstehung keineswegs etwas absolut Neues war und – aus europäischer Sicht – auch nicht etwas gegenüber dem Christentum substantiell Anderes. Aus dem Rahmen seiner Zeit und von seinen Aussagen ist der Koran nichts anderes als eine Stimme im Konzert jener Debatten, die in der Spätantike über die Religionsgrenzen hinweg zwischen Schriftgelehrten geführt wurden. So gesehen ist der Koran ein weiterer, auf der hebräischen Bibel beziehungsweise dem Alten Testament aufbauender Text der plurikulturellen Spätantike und damit ein auch für Europäer signifikanter Text, ein Text also, der nicht muslimische Europäer und Muslime verbindet. Und auch aus der Sicht der Muslime kann dieser Blick auf die gemeinsamen spätantiken Wurzeln neue Horizonte ihrer eigenen Geschichte eröffnen. Gudrun Krämer beginnt ebenfalls mit dem Koran, bewundert seine sprachliche Schönheit, mit der sein Offenbarungsgehalt ihrer Auffassung nach allerdings nicht Schritt hält und untersucht die Rolle des Propheten, seiner Religions- und Rechtsgelehrten und deren aller Verhältnis zu Allah. Der Beitrag von Jürgen Wasim Frembgen behandelt mit der Mystik die spirituelle Dimension des Islam, deren innere, esoterische Werte einen äußeren Ausdruck in der Wertschätzung von Musik, Tanz, Poesie und Kalligraphie finden. Mit dem Amulettwesen, wunderbarer Krankenheilung und Heiligenverehrung spricht Krisztine Kehl-Bodrogi volksreligiöse Phänomene an, die sich indessen keineswegs auf die Welt der Muslime beschränken, denn überall, wo der Mensch Gefahren und Bedrohungen ausgesetzt ist gilt es, übernatürliche Kräfte durch Gebet, Beschörungsformeln, geweihte Gegenstände und Rituale zu bannen. Ingrid Pfluger-Schindlbeck behandelt dann das hochaktuelle, heute auch politisch aufgeladene Thema der Verschleierung, aus westlicher Sicht oft ein Symbol sowohl für die Unterdrückung der islamischen Frau wie auch für die Rückständigkeit der islamischen Gesellschaft. Der Leser erfährt, dass der Schleier schon in vorislamischer Zeit ein Zeichen für Respektabilität und hohen gesellschaftlichen Rang war, und dass das Anlegen und Tragen eines Schleiers, sei es in der Form des Gesichtsschleiers oder der Burka bis zur modernen Wertung als modisches Attribut viele verschiedene und durchaus achtenswerte Bedeutungen haben kann. Nicht der Schleier also, sondern alleine die Politik sei für die gesellschaftliche Benachteiligung der Frau verantwortlich, so das Credo der Autorin. Weitere Essays befassen sich mit schriftlichen Zeugnissen aus dem Zentralasien des 19. Jahrhunderts, etwa aus der Zeit als sich Briten und Russen im so genannten „Great Game“ um die Vorherrschaft in Turkestan stritten (Ingeborg Baldauf), mit der bedeutenden Rolle der Gastfreundschaft in islamischen Kulturen (Lutz Rehak) und wie in muslimischen Gesellschaften die Gestaltung und Widmung von Räumen zur Trennung der Geschlechter genutzt werden, ein sich immer wieder wandelndes Spiel zwischen Trennung und Integration, zwischen Innen und Außen, mit negativen ebenso wie mit positiven Aspekten (I.Pfluger-Schindlbeck). Alle Essays sind themenbezogen reich illustriert, wobei besonders die Vielfalt und Schönheit der Textilien, der vielen bunten Frauenkleider, der repräsentativen Männermäntel und der mannigfachen Kopfbedeckungen hervorzuheben sind. Koranständer, Kalligraphien, Metallarbeiten, Derwischkostüme, Musikinstrumente, kirgisische Filzteppiche und Architekturfragmente aus dem Swat verführen zum Besuch des Museums, gleichgültig ob diese schönen Artefakte nach dem sich wandelnden Urteil als Werke der Kunst oder der Nichtkunst zu qualifizieren sind. Oder, um es drastisch auszudrücken: Ob ein beduinischer Wassersack aus Ziegenleder als Objekt außereuropäischer Kunst einzuordnen ist, mag den sich ändernden ästhetischen Kriterien überlassen werden; ein wichtiges Zeugnis kultureller Identität ist er allemal. Womit sich die in der Einleitung gestellte Frage nach der Legitimation ethnologischer Museen außereuropäischer Kulturen zwanglos beantwortet. Gehen Sie hin und lesen Sie das Buch!

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