Freie Nomaden, edle Räuber, skrupellose Sklavenjäger – Zur Darstellung von Turkmenen in Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert

Autor/en: Katrin Staudinger
Verlag: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Erschienen: Wien 2012
Seiten: 196
Ausgabe: Broschur
Preis: € 29,00
ISBN: 978-3-7001-7144-7
Kommentar: Michael Buddeberg, Januar 2014

Besprechung:
Der typische Tagesablauf eines Turkmenen beginnt damit, dass er sich zunächst der Pflege seines Pferdes widmet. Dann besucht er seinen Nachbarn oder schließt sich einer Gruppe an, die bereits Wasserpfeife rauchend vor einer Jurte sitzt und Gespräche über Politik, Raubzüge oder Pferde führt. Im Gegensatz zur Untätigkeit der Männer sind Turkmenenfrauen ohne Unterlass beschäftigt. Sie haben für den Transport und Aufbau der Jurten zu sorgen, sind zuständig für die Zubereitung der Nahrung, was auch das tägliche Mahlen des Getreides mit einfachen Handmühlen einschließt und sie verarbeiten die Rohwolle zu Filzen und Teppichen. Diese und viele andere, teilweise recht widersprüchliche Klischees beherrschen die Berichte russischer, europäischer und amerikanischer Reisender in Zentralasien im 19. Jahrhundert. Und es waren nicht wenige, die im Zuge des erwachenden Interesses für den Orient nicht nur den nahen Osten, sondern auch die nahezu unbekannten Nomadenregionen Zentralasiens bereisten. Es waren Abenteurer oder Naturwissenschaftler, hier vor allem Geographen und Kartographen, und sie machten sich aus reiner Reiselust oder in wissenschaftlicher Mission auf den beschwerlichen Weg. Vor allem aber waren es – vornehmlich bei den Briten und Russen – Militärs, denn das so genannte „Great Game“, das Ringen Englands und Russlands um den politischen und wirtschaftlichen Einfluss in Zentralasien hatte bereits begonnen. Sie alle reisten in der Regel im Schutz landesüblicher Handelskarawanen, nutzten das Netz der Karawansereien, verfügten über einen mehr oder weniger umfangreichen Tross an Dienern und Soldaten, hatten großes Gepäck auf Dutzenden von Tragtieren, versuchten durch Verkleidung dem Interesse der Einheimischen zu entgehen … und schrieben Tagebuch: Das war das Material für die Berichte, die fast alle diese frühen Reisenden im Anschluss an ihr Abenteuer publizierten und die den weiten Bereich vom wissenschaftlichen Tatsachenbericht bis zum literarisch-künstlerischen Essay abdecken. Für die oft ungewöhnlich hohen Auflagen und Verkaufszahlen dieser Bücher sorgten die immer wiederkehrenden Topoi über die Turkmenen, ihr freies Nomadentum sowie ihr Hang zu Räuberei und Menschenraub. Was es damit tatsächlich auf sich hatte, sucht die Kultur- und Sozialanthropologin Katrin Staudinger in einer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit der einschlägigen Reiseliteratur zu ergründen. Das ist sehr lesenswert, zumal hier auch der historische Hintergrund, die Geschichte Zentralasiens im 19. Jahrhundert, und ein, wenn auch knapper, Überblick über die wichtigsten Stämme der Turkmenen und ihre kolportierten Eigenschaften behandelt werden. Die Salor gelten danach als die vornehmsten und nobelsten unter den Turkmenen, während die Tekke den Ruf des wildesten und räuberischsten aller Stämme genießen, ein Stamm, der niemanden verschont und sogar den Propheten als Sklaven verkaufen würde. Knapp vier Dutzend solcher Reiseberichte aus der Zeit von 1819 bis 1885 werden von der Autorin ausgewertet, wobei sie auf die jeweiligen, ganz unterschiedlichen Reisebedingungen eingeht und vor allem untersucht, wieweit die Umstände und die sprachlichen Voraussetzungen einen engeren Kontakt mit Turkmenenstämmen und damit Informationen aus erster Hand überhaupt ermöglichten. Im Mittelpunkt der Untersuchung und durch die vielen Original-Zitate besonders kurzweilig zu lesen, sind natürlich Berichte über die Begegnungen mit Turkmenen, über ihr Aussehen und Auftreten, über den Eindruck, den junge oder auch nicht mehr ganz so junge Turkmeninnen auf die Reisenden machten, über turkmenische Lebens- und Essgewohnheiten, die Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, die Gastfreundschaft und immer wieder über die latente turkmenische Neigung zu Diebstahl, Raub und Sklaverei. Da aber kein einziger der Reisenden als Augenzeuge, geschweige denn als Opfer eines von Turkmenen verübten Überfalls berichten konnte, erweisen sich die Geschichten von der Grausamkeit und Gefährlichkeit der Turkmenen als ein typisches Vorurteil, das, einmal in die Welt gesetzt, zum niemals ernsthaft hinterfragten Stereotyp des nomadischen Turkmenentums wurde. Die von der Autorin nachgewiesenen persönlichen und direkten Kontakte zwischen den Autoren der Reiseberichte lassen zudem vermuten, dass viele Informationen nicht unmittelbar sondern aus zweiter Hand Eingang in die Berichte fanden. So besteht ein guter Teil dieser Reiseliteratur aus einer bunten Mischung von Phantasie, Vorurteil und echter Information. Sie gehören damit in die Schublade europäischer Orientalismen, die der Literaturhistoriker Edward Said mit seinem 1978 erschienenen, viel diskutierten und noch heute aktuellen Buch „Orientalism“ geöffnet hat.

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